Blick über den Zaun

Mal mehr, mal weniger

Das Dilemma mit der goldenen Balance: In der Saison verwandeln Gäste Urlaubsorte in Rummelplätze, in zu ruhigen Monaten drücken die ausbleibenden Gäste aufs Gemüt. Wie bekommt man Over- und Under­tourism in den Griff? Vier ganz unterschiedliche Beispiele aus der Praxis.

Blick in ein Tal, das von Bergen umgeben ist.

Innervillgraten, Osttirol 

Die reine Leere: Warum es manchmal Sinn macht, sich dem Fortschritt zu verweigern

Ganz schön clever, diese Osttiroler. Bei der Bestandsaufnahme ihrer touristischen Aktiva stellten die Einheimischen Innervill­gratens fest, dass in ihrem stillen Gebirgstal Attraktionen wie Hochseilgärten und Spaß­bäder fehlten. Nicht mal Skilifte gab es. Die einen oder anderen Gäste allerdings hätte man schon gern empfangen. Aber wie? Statt den Ort nun freizeitmäßig aufzurüsten, entschied man sich für das Gegenteil und bewarb bewusst die Lücke. „Kommen Sie zu uns – wir haben nichts“, lautete der Claim. Mitzulesender Subtext: außer Natur, Ruhe und Entschleunigung natürlich. Dieses Versprechen auf unverbaute Almen, klare Wasser und dicht bewaldete Hänge, wo sonst Skipisten kahle Schneisen pflügen, bescherte Innervillgraten ein zeit­gemäßes Alleinstellungsmerkmal. Und die dazu passenden Gäste.

Eine Alm steht an einem steilen Berghang. Im Hintergrund sieht man schneebedeckte Berge.
Innervillgraten in Osttirol © Adobestock – TRFilm
Eine venezianische Gondel fährt auf einem breiten Strom. Im Hintergrund liegt ein großes Kreuzfahrtschiff an.
Venedig in Italien © CMR – Joachim Negwer

Venedig, Italien

Tod in Venedig … und mögliche Wiederauferstehung

Das Problem Venedigs ist bekannt. Der holländische Dichter Ilja Leonard Pfeijffer formuliert es so: „Venedig ist die schönste Stadt der Erde, leider ist es keine Stadt mehr, sondern reine Kulisse, ein Hotel, ein Ort ohne Seele.“ Die Venezianer wissen um die ambivalenten Auswirkungen ihrer Strahlkraft, doch konsequent gegen den Overtourism anzukämpfen – 19 Millionen Tagesgäste im Jahr 2019 –  traut man sich noch nicht. Immerhin dürfen seit 2020 Kreuzfahrtschiffe nicht mehr in der Altstadt anlegen.

Ab 2022  soll ein Reservierungssystem mit kombinierter Eintrittsgebühr für Tagestouristen eingeführt werden. Schon jetzt verfügt die Stadt über ein Kontrollsystem, das in Echtzeit anzeigt, wie viele Besuchende sich wo in Venedig aufhalten. Im März 2021 hat die Region Venetien außerdem einen Plan vorgelegt, Venedig zur „Welthauptstadt der Nachhaltigkeit“ zu machen – mit kon­trollierter Tagesbesucherzahl, mehr ständigen Bewohnerinnen und Bewohnern, Anreizen für die Ansiedlung von Start-ups, Rückgang privat vermieteter Ferienwohnungen und anderem mehr. Bezahlt werden soll das Paket mit Mitteln aus dem Corona-Hilfsfonds der EU.

Nantes, Frankreich  

Immer der grünen Linie nach: Wie man mit Kunst und Kultur aus der Krise kommt

„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, hat der weise Bayer Karl Valentin einmal gesagt. Die Stadtväter der ehemaligen Werftenstadt Nantes an der Grenze zur Bretagne haben das in Kauf genommen, als sie in den 90er-Jahren vor der Frage standen, wie sie ihre Stadt für die Locals attraktiver und für Gäste zum Reiseziel machen sollten. Sie setzten konsequent auf Kunst und Kultur, entwickelten Konzepte für Kunstfestivals und Museen, schufen moderne Architektur im öffentlichen Raum und luden kontinuierlich Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt ein – bis heute.

Um den Charakter der Stadt als Gesamt-Oevre zu unterstreichen, pinselten sie eine grüne Bodenlinie auf das Pflaster der Stadt und skizzierten auf diese Weise einen Rundweg, der an vielen Sehenswürdigkeiten Nantes‘ vorbeiführt. Spart den Guide und stellt sicher, dass die Gäste keine relevanten Kunst- und Kulturstätten der Stadt verpassen. Ein erfolgreiches Konzept: Die Runde auf dem grünen Strich dauert etwa zwei Stunden, doch die Erinnerung an Nantes wird sehr viel länger im Gedächtnis bleiben.

Man sieht von einer Brücke über ein Gewässer auf eine Altstadt. Entlang der Brücke sind große, mit Neonleuchten verkleidete Kreise aufgestellt.
Nantes in Frankreich © Adobestock – Henryk Sadura
An einem langen Strandabschnitt sind große Holzleinwände mit großen Porträtfotos aufgestellt.
Zingst in Mecklenburg-Vorpommern © Yvonne Ewert

Zingst, Mecklenburg-Vorpommern

Lautere Motive : Wie ein Ostseebad durch Fotografie zum Ganzjahresziel wurde  

Zu den Vorteilen einer ansprechenden Umgebung gehört es, dass ihre Schönheit nicht von der Jahreszeit abhängt. Im hübschen Ostseebad Zingst in Mecklenburg-Vorpommern hat man das erkannt. Dort setzt man seit Jahren nicht mehr nur auf Strandleben und Badegäste im Sommer, sondern fokussiert das ganze Jahr hindurch erfolgreich auf die Fotokunst und die Menschen hinter der Linse.

Workshops, Ausstellungen und Seminare zu diesem Thema sorgen dafür, dass in jeder Zeit des Jahres Menschen nach Zingst kommen, die vor allem das wollen: fotografieren. Oder lernen, wie man fotografiert. Mit Gleichgesinnten fachsimpeln. Und natürlich: Motive in Zingst und Umgebung erkunden. Im Rahmen des Umweltfestivals „Horizonte Zingst“ etwa sind allein 2021 über 15 Ausstellungen in Zingst und Umgebung aufgebaut worden. Und für spontane Versuche besteht die Möglichkeit, sich im „Max Hünten Haus“ Kameras und Objektive auszuleihen. Zingst gilt nunmehr als wetterunabhängige Jahresdestination, mit entsprechender Entzerrung der Gästeströme. Was sich wiederum höchst positiv auf die Zufriedenheit der Locals auswirkt. Und Zingst auch für die Einheimischen attraktiv macht.