Blick über den Zaun
Mal mehr, mal weniger
Das Dilemma mit der goldenen Balance: In der Saison verwandeln Tourist*innen Urlaubsorte in Rummelplätze, in zu ruhigen Monaten drücken die ausbleibenden Gäste aufs Gemüt. Wie bekommt man Over- und Undertourism in den Griff? Vier ganz unterschiedliche Beispiele aus der Praxis.

Innervillgraten, Osttirol
Die reine Leere: Warum es manchmal Sinn macht, sich dem Fortschritt zu verweigern
Ganz schön clever, diese Osttiroler*innen. Bei der Bestandsaufnahme ihrer touristischen Aktiva stellten die Bürger*innen aus Innervillgraten fest, dass in ihrem stillen Gebirgstal Attraktionen wie Hochseilgärten und Spaßbäder fehlten. Nicht mal Skilifte gab es. Die einen oder anderen Gäste allerdings hätte man schon gern empfangen. Aber wie? Statt den Ort nun freizeitmäßig aufzurüsten, entschied man sich für das Gegenteil und bewarb bewusst die Lücke. „Kommen Sie zu uns – wir haben nichts“, lautete der Claim. Mitzulesender Subtext: außer Natur, Ruhe und Entschleunigung natürlich. Dieses Versprechen auf unverbaute Almen, klare Wasser und dicht bewaldete Hänge, wo sonst Skipisten kahle Schneisen pflügen, bescherte Innervillgraten ein zeitgemäßes Alleinstellungsmerkmal. Und die dazu passenden Tourist*innen.


Venedig, Italien
Tod in Venedig … und mögliche Wiederauferstehung
Das Problem Venedigs ist bekannt. Der holländische Dichter Ilja Leonard Pfeijffer formuliert es so: „Venedig ist die schönste Stadt der Erde, leider ist es keine Stadt mehr, sondern reine Kulisse, ein Hotel, ein Ort ohne Seele.“ Die Venezianer*innen wissen um die ambivalenten Auswirkungen ihrer Strahlkraft, doch konsequent gegen den Overtourism anzukämpfen – 19 Millionen Tagesgäste im Jahr 2019 – traut man sich noch nicht. Immerhin dürfen seit 2020 Kreuzfahrtschiffe nicht mehr in der Altstadt anlegen.
Ab 2022 soll ein Reservierungssystem mit kombinierter Eintrittsgebühr für Tagestourist*innen eingeführt werden. Schon jetzt verfügt die Stadt über ein Kontrollsystem, das in Echtzeit anzeigt, wie viele Besuchende sich wo in Venedig aufhalten. Im März 2021 hat die Region Venetien außerdem einen Plan vorgelegt, Venedig zur „Welthauptstadt der Nachhaltigkeit“ zu machen – mit kontrollierter Tagesbesucher*innenzahl, mehr ständigen Bewohner*innen, Anreizen für die Ansiedlung von Start-ups, Rückgang privat vermieteter Ferienwohnungen und anderem mehr. Bezahlt werden soll das Paket mit Mitteln aus dem Corona-Hilfsfonds der EU.
Nantes, Frankreich
Immer der grünen Linie nach: Wie man mit Kunst und Kultur aus der Krise kommt
„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, hat der weise Bayer Karl Valentin einmal gesagt. Die Stadtväter der ehemaligen Werftenstadt Nantes an der Grenze zur Bretagne haben das in Kauf genommen, als sie in den 90er-Jahren vor der Frage standen, wie sie ihre Stadt für die Bürger*innen attraktiver und für Tourist*innen zum Reiseziel machen sollten. Sie setzten konsequent auf Kunst und Kultur, entwickelten Konzepte für Kunstfestivals und Museen, schufen moderne Architektur im öffentlichen Raum und luden kontinuierlich Künstler*innen aus der ganzen Welt ein – bis heute.
Um den Charakter der Stadt als Gesamt-Oevre zu unterstreichen, pinselten sie eine grüne Bodenlinie auf das Pflaster der Stadt und skizzierten auf diese Weise einen Rundweg, der an vielen Sehenswürdigkeiten Nantes‘ vorbeiführt. Spart den Guide und stellt sicher, dass Besucher*innen keine relevanten Kunst- und Kulturstätten der Stadt verpassen. Ein erfolgreiches Konzept: Die Runde auf dem grünen Strich dauert etwa zwei Stunden, doch die Erinnerung an Nantes wird sehr viel länger im Gedächtnis bleiben.


Zingst, Mecklenburg-Vorpommern
Lautere Motive : Wie ein Ostseebad durch Fotografie zum Ganzjahresziel wurde
Zu den Vorteilen einer ansprechenden Umgebung gehört es, dass ihre Schönheit nicht von der Jahreszeit abhängt. Im hübschen Ostseebad Zingst in Mecklenburg-Vorpommern hat man das erkannt. Dort setzt man seit Jahren nicht mehr nur auf Strandleben und Badeurlauber*innen im Sommer, sondern fokussiert das ganze Jahr hindurch erfolgreich auf die Fotokunst und ihre Protagonist*innen.
Workshops, Ausstellungen und Seminare zu diesem Thema sorgen dafür, dass in jeder Zeit des Jahres Menschen nach Zingst kommen, die vor allem das wollen: fotografieren. Oder lernen, wie man fotografiert. Mit Gleichgesinnten fachsimpeln. Und natürlich: Motive in Zingst und Umgebung erkunden. Im Rahmen des Umweltfestivals „Horizonte Zingst“ etwa sind allein 2021 über 15 Ausstellungen in Zingst und Umgebung aufgebaut worden. Und für spontane Neukünstler*innen besteht die Möglichkeit, sich im „Max Hünten Haus“ Kameras und Objektive auszuleihen. Zingst gilt nunmehr als wetterunabhängige Jahresdestination, mit entsprechender Entzerrung der Tourist*innenströme. Was sich wiederum höchst positiv auf die Zufriedenheit der Bürger*innen auswirkt. Und Zingst auch für die Einheimischen attraktiv macht.