Schöne, neue Nachhaltigkeit

Interview mit Prof. Alfred Bauer

Umweltfreundliche und hochwertige Angebote, bewusste Reisende, gelenkte Gästeströme, sinnvolles Wachstum in der Fläche – so könnte Tourismus in Bayern nach einer Studie der Hochschule Kempten im Jahr 2040 aussehen. Nur ein schöner Traum? Wir haben mit Prof. Alfred Bauer über die „Neue Verträglichkeit“ gesprochen – und darüber, wie realistisch sie ist

Wie könnte der Tourismus in Bayern im Jahr 2040 aus­sehen? Das fragte sich 2019 die Hochschule Kempten. Und entwickelte mit einem Team aus zwanzig Fachleuten aus bayerischen Destinationen, Beherbergungsstätten und Gastronomiebetrieben, der Kreativwirtschaft, der Mobilitätsbranche sowie der Tourismuswissenschaft mehrere mögliche Szenarien.

Neue Verträglichkeit

Eines dieser Szenarien trägt den Namen „Neue Verträglich­keit“. Es beschreibt eine Tou­rismuswelt, die vom Klima­wandel zu einer neuen Kompatibilität in Sachen Umwelt und Soziales gezwungen wird. Der Staat greift stärker lenkend ein, doch die allgemeine Einstellung zur Nachhaltigkeit ist groß; alle machen voller Überzeugung mit. Auch weil den Akteuren in der Wirtschaft klar geworden ist, dass die Ausrichtung in Sachen Nachhaltigkeit echte Wettbewerbsvorteile mit sich bringt. Wachstum findet weiterhin statt, allerdings nicht mehr vertikal in den Hotspots, sondern in der Fläche und über das ganze Land verteilt. Gästeströme werden bewusst gelenkt. Ein Traumszenario? Wir haben mit Projektleiter Prof. Alfred Bauer von der Hochschule Kempten über die „Neue Verträglichkeit“ gesprochen.

Die Illustration zeigt einen Zug, der über eine Brücke fährt. Im Hintergrund sieht man Berge.
Post-materiell eingestellte Reisende entscheiden sich bewusst für die unversehrte Natur Bayerns und ihre nachhaltigen Angebote. Die Anreise? Am liebsten öffentlich © Dieter Braun

Herr Prof. Bauer, von allen sieben Szenarien ist bei der „Neuen Verträglichkeit“ die Kluft zwischen den aktuellen Verhältnissen heute und der erwünschten/erwarteten Zukunft am größten. Das bedeutet, es sind erhebliche Veränderungen nötig, damit das Szenario eintritt. Heißt das, dieses Szenario, das ja sehr positiv bewertet wird, ist weniger realistisch als die anderen? 

Ein Szenario ist die Beschreibung einer denkbaren Zukunft, und derer gibt es mehrere. Alle Szenarien wurden vom Team hinsichtlich ihrer Gegenwartsnähe sowie ihrer Nähe zur erwarteten und gewünschten Zukunft bewertet. Dabei ging es darum, zu erfahren, mit welchen Entwicklungen am ehesten gerechnet wird. Gleichermaßen erwartet wie erwünscht werden neben der „Neuen Verträglichkeit“ noch zwei weitere Szenarien: „Alles im Flow“, wo der Tourismus weiter kräftig wächst, vor allem dank gut gelenkter ausländischer Gästeströme zu den Hot­spots. Und „Digital Dirndl“, wo eine anspruchsvolle, postmaterialistische Klientel aus der ganzen Welt authentische, nachhaltige Ferien in einem digitalisierten Bayern verbringt.

Diese Bewertungen bilden eine Momentaufnahme der Zukunftssicht – hier aus dem Jahre 2019, dem Jahr vor Corona. Wer hätte damals schon geglaubt, dass das Szenario „Tourismus am Ende?“ bereits nach neun Monaten Realität werden könnte? Und wenn ich mir die durch Corona noch verstärkten Diskussionen zur Überlastung von Tourismusregionen ansehe – Stichworte „Overtourism“ und „Overcrowding“ –, warum sollte dann der Wunsch nach einer „Neuen Verträglichkeit“ weniger realistisch sein als der nach einem „Alles im Flow“, also einem Schneller, Höher, Weiter-wie-Bisher?

 „Die Natur ist bei uns schon heute Lebens- und Wirtschaftsgrundlage. Vor diesem Hintergrund müssen sich alle Akteure auf ein gemeinsames Ziel einigen: Nachhaltigkeit.“

Was muss – politisch, wirtschaftlich, in den Köpfen der Menschen – geschehen, damit das Szenario „Neue Verträglichkeit“ Wirklichkeit werden kann? 

Die Natur ist den bayerischen Urlaubsregionen schon heute die Lebens- und Wirtschaftsgrundlage und wird es auch in Zukunft sein. Vor diesem Hintergrund müssen sich Staat, Gesellschaft und Wirtschaft auf ein gemeinsames Ziel einigen: Nachhaltigkeit! Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss bei allen Entscheidungen berücksichtigt werden.  

Um den Tourismusstandort Bayern zukunftsfest zu machen, muss die Politik die Akteure mit Blick auf die Erreichung der Klimaziele unterstützen und durch gezielte Lenkungseingriffe dazu beitragen, die Handlungsspielräume von Destinationen und Unternehmen – mit Blick auf die umwelt- und sozialverträglichen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen – positiv zu beeinflussen. Das steht so ähnlich auch schon im Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode.

„Die Unternehmen müssen in der Ausrichtung auf Nachhaltigkeit Vorteile sehen.“

Die Unternehmen hingegen müssen in der klaren Ausrichtung auf Nachhaltigkeit Wettbewerbsvorteile sehen. Die Branche muss erkennen, dass in notwendigen Anpassungsstrategien an die Auswirkungen des Klimawandels auch eine Chance steckt – man kann an Attraktivität gegenüber anderen Destinationen gewinnen.

Die Menschen wiederum müssen sich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre Lebensgewohnheit ändern, auch im Urlaubsverhalten. Die postmateriell eingestellten Touristen wählen ihre Reiseziele dann bewusst nach nachhaltigen Aspekten aus und reisen auch umweltverträglich an. Erlebnis und Sinnerfahrung stellen den entscheidenden Mehrwert im Urlaub dar. Das alles bedeutet übrigens nicht etwa Verzicht auf Konsum, sondern einen bewussteren Konsum, bei dem neben guter Qualität – unter besonderer Berücksichtigung der Regionalität – auch die Dienstleistung gefordert ist.

Auf der Illustration sind zwei Koffer gesehen. Einer ist geöffnet, darin sieht man Berge und die Silhouette eines wandernden Paares. Im Hintergrund ist die Silhouette eines Jungens, der rennend einen Drachen hinter sich her zieht und eine Frau im Liegestuhl die etwas liest.
Die bayerischen Tourismusakteur*innen wahren Traditionen und richten ihr vielfältiges, nachhaltiges Angebot an den anspruchsvollen Gästen aus. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist hoch © Dieter Braun

Ganz wichtig: Die „Neue Verträglichkeit“ trennt nicht mehr zwischen Ansprüchen der Einheimischen und der Gäste an den gemeinsam genutzten Raum. Aus reinem Destinationsmarketing muss daher ein echtes Destinationsmanagement werden, das einen Ort oder eine Region als gleichberechtigt zu nutzenden Raum für alle betrachtet – für die Lebens-, Arbeits- und Freizeitansprüche der Einheimischen und für die Urlaubswünsche der Touristen.

„Wichtig: Die Neue Verträglichkeit trennt nicht mehr zwischen Ansprüchen der Einheimischen und Gäste an den gemeinsam genutzten Raum.“

Warum handelt es sich um ein aus Touristikersicht besonders erstrebens­wertes Szenario?

Die „Neue Verträglichkeit“ sichert attraktive Lebens- und Urlaubsräume durch einen Tourismus, der sein Maß gefunden hat und damit langfristig zu einer guten Lebensqualität für die Bevölkerung und zugleich zu einer tollen Aufenthaltsattraktivität der Gäste beiträgt. Sein „Maß finden“ bedeutet, dass zur Vermeidung von Belastungen der Einheimischen und der Gäste im Sinne von „Overcrowding-“ und „Overtourism-Effekten“ auch über quantitative Wachstumsgrenzen diskutiert werden muss. Den Destinationsmanagementorganisationen ermöglicht dieser Fokus auf die neue, ganzheitliche Umwelt- und Sozialverträglichkeit ins­besondere eine qualitative Weiterentwicklung des bayerischen Tourismus.

Welche Probleme und Schwierigkeiten bringt dieses Szenario für die Branche mit sich?

Die Menschen müssen ihre Lebensgewohnheiten und letzt­endlich auch ihr Urlaubsverhalten ändern. Nicht erst seit „Fridays for Future“ wird auf die Wichtigkeit des Themas Nachhaltigkeit für die Menschen hingewiesen, insbesondere auch bei den Reisen. Die Lücke zwischen dem beabsichtigten Verhalten und dem tatsächlichen Verhalten (»Attitude-Behaviour-Gap«) in Bezug auf Nachhaltigkeit besteht seit Jahrzehnten, und auch wenn es wahrnehmbare Veränderungen bei der Nachfrage nach nachhaltigen Tourismusprodukten gibt, schließt sich diese Lücke nur sehr langsam. Offen bleibt vor allem die Frage, ob Gäste und Urlauber bereit sind, die höheren Preise zu zahlen, die nachhaltige und qualitativ hochwertigere Produkte nach sich ziehen. 

Das Thema quantitative Wachstumsgrenzen für Übernachtungs- und/oder Tages­tourismus wird von den verschiedenen Tourismusakteuren sehr unterschiedlich gesehen – je nachdem, wie sehr sie jeweils davon abhängen. Dazu kommen die eventuell divergierenden Meinungen der Einheimischen. Diese Diskussionen müssen stattfinden, werden jedoch von hoher Emotionalität geprägt sein.

Auf welche Kategorien warten die größten Herausforderungen in der „Neuen Verträglichkeit“? Und welche Kategorien werden sich in Zukunft eher leichttun?

Die Herausforderung ist für alle Beteiligten gleich: Wo Nachhaltigkeit draufsteht, muss auch Nachhaltigkeit drin sein. Kunden wollen mit qualitativ hochwertigen Angeboten im Einklang mit Bayerns Natur und Umwelt überzeugt werden. Nicht nachhaltige Produkte und Ange­bote werden aus dem »Relevant Set« herausfallen.

Die Illustration zeigt ein Weizenbier, Brezel und Brot, Weizen, ein Festzelt, Skier, Berge, Trauben und Wein, eine Weißwurst und einen Skilift. Im Hintergrund ist der Umriss von Bayern zu sehen.
Nachhaltigkeit bedeutet keinen Verzicht, sondern einen bewussteren Konsum, bei dem Qualität, Regionalität und Authentizität gefragt sind. Die Urlau­ber suchen Erlebnis und Sinnerfahrung © Dieter Braun

Wenn der Strom der Reisenden für mehr Nachhaltigkeit gesteuert werden soll: Welche Instrumente eignen sich dafür? Wie könnte so eine Steuerung aussehen?

Es werden in vielen bayerischen Regionen vielfältige Maßnahmen zur Besucherlenkung diskutiert – höhere Parkgebühren, Parkraumbewirtschaftung mittels Sensorik und Vorabbuchung von Parktickets, Ausweitung oder Limitierung von Kapazitäten. Entscheidend sind aktuelle Informationen über die Besuchsregionen, und dort soll der neue Ausflugsticker 2.0 in Bayern weiterhelfen.

Noch ist Nachhaltigkeit ein positives Alleinstellungsmerkmal. Wenn die ganze Touristikwelt nachhaltig geworden sein wird, was bietet sich als nächstes zukunftsträchtiges Alleinstellungsmerkmal an?

Nachhaltigkeit sollte nicht nur als Differenzierungsfaktor im Wettbewerb gesehen werden, sondern als unabdingbarer Umgang mit der Umwelt. Die Realisierung dieses Ziels wird nicht von heute auf morgen geschehen, also lassen Sie uns die Umsetzung doch erst einmal angehen, und dann schauen wir, was sonst noch kommt.